Jury Duty – wie man jemanden verurteilt, oder auch nicht

Wow, da wurde ich also vor knapp 4 Monaten Amerikanischer Staatsbürger und werde schon zur Arbeit aufgerufen. Für das Gemeinwesen natürlich! Was mich an den USA immer wieder von neuem fasziniert ist die dezentralisierte Verwaltung: Es scheint schlicht und einfach keine zentrale Datenbank zu existieren und man kann sich deshalb 1) theoretisch für alles einfach mal anmelden, zB fürs abstimmen (was natürlich illegal wäre) und 2) über diverse Einladungen freuen, z.B jener für die „Jury Duty“. Letztere bekam ich nämlich schon einmal vor knapp 3 Jahren und konnte dann ganz entspannt die „sorry, I am actually not a US Citizen“ option ankreuzen. Tja, das war einmal!

Doch um was geht es hier eigentlich? Um Geschworenengerichte, bzw. die „Bürgerpflicht“, sich für eine Jury zur Verfügung zu stellen. In Massachusetts hat das mit den „Pilgern“ (aka pilgrims) angefangen, die mit ihren Booten 1620 in Plymouth angekommen sind – und nie mehr aufgehört! Das System ist also super stark verankert, und hat sich aber mit der Zeit auch weiterentwickelt (vor allem weil es immer schwieriger geworden ist, genügend Jurors zu finden): Eine Innovation made in Massachusetts war die Einführung des „One Day – One Trial“ Systems: man wird aufgeboten, muss an einem bestimmten Tag beim Gericht erscheinen und kann, mit etwas Glück, am gleichen Tag wieder nach Hause (weil keiner der Prozesse eine eigentliche Jury benötigt, zB wegen aussergerichtlicher Einigungen). Eindrücklich ist das Ganze trotzdem: Sowohl die US Verfassung, als auch jene von Massachusetts, garantieren einem das Recht, von „Gleichgesinnten“ (peers) gerichtet zu werden. Der Richter selber legt nicht einmal das Strafmass fest, sondern führt nur durch den Prozess und gibt Anweisungen, wie die Jury das Gesetz auszulegen hat.

Tag 1 – frei sein oder nicht

Um 8 Uhr hiess es für mich in der alten Industriestadt Lowell beim „Superior Court“ anzutraben. Erstens geht man grundsätzlich mal nicht nach Lowell (da gibt’s nichts zu sehen) und zweitens schon gar nicht wenn man in Cambridge zu Hause ist – das sind nämlich 50 Minuten mit dem Auto, ganz ohne Verkehr. Das Gerichtsgebäude ist super eindrücklich und schon über ein Jahrhundert alt. Und das spürte man auch drinnen: Holz überall, lange dunkle Gänge, alte Schilder und schlechte Isolierung. Aber es verlieh dem Ganzen natürlich einen (teilweise un-) würdigen Rahmen.

Zu Beginn hiess es eine Stunde warten, nur um dann einen kurzen Einführungsvideo über das Jury System anzuschauen (der war wirklich gut – präsentiert auf einem DVD Player; was sind DVDs schon wieder?). Und dann nochmals warten, bis wir, knapp 50 Personen, endlich in den Gerichtssaal geführt wurden. Da warteten die Richterin, Kläger und Angeklagte, und die jeweiligen Anwälte auf uns. Hier hatte ich dann auch zum ersten Mal das Gefühl, dass es sich um eine ernste Angelegenheit handelte. Und dann wurde es ungemütlich: Auf kargen Holzbänken mussten wir über 2 Stunden ausharren bis sie uns alle einzeln nach vorne gebeten hatten. Die Richterin und Anwälte stellten verschiedenste Fragen über meinen Hintergrund, berufliche und familiäre Situation, und vieles mehr. Das war schon mal ein spezieller Moment. Und da habe ich dann auch die Chance verpasst, aus dem Ganzen gleich wieder herauszukommen: Als ehrlicher und redlicher Schweizer/Amerikaner gab es keinen guten Grund, mich NICHT als unvoreingenommenes und faires Jury-Mitglied anzubieten. Und dann der Hammer: Anstatt nur eines Tages wurde der Prozess über 7 Tage angesetzt!!!! Zum Vergleich, 95% aller Juroren sind nach 1-3 Tagen wieder draussen… Der Arbeitgeber hat übrigens gar keine andere Option, als mich teilnehmen zu lassen: Kündigungsschutz! Ab dem 3. Tag müssten sie mir theoretisch keinen Lohn mehr auszahlen (machten sie aber trotzdem), und das Commonwealth entschädigt einen auch noch mit $50 pro Tag. Na immerhin. Ach ja, wenn man nicht auftauchen sollte könnte die Richterin übrigens den Sheriff vorbeischicken und einen verhaften lassen. Uh-oh.

Tag 2 – ein junge Ärztin und eine verstorbene Patientin

Ich fühlte mich wie im Film. Die Jury trifft sich jeweils im Hinterzimmer und geht dann als letzte in den Gerichtssaal – alle anderen Personen im Raum müssen aufstehen, inkl. der Richterin! Und der Gerichtsdiener ist es dann, der jedes Mal (nach jeder Pause!), die Jury offiziell als bereit erklärt:

Hear ye. Hear ye. Hear ye. All persons having business before the Honorable, the Justices of the Lowell Superior Court, draw near, give your attendance and you shall be heard. God save the Commonwealth of Massachusetts. Please be seated.

Und dann geht’s los. Es handelt sich um einen Zivilprozess, Ankläger ist der Ehemann einer verstorbenen Patientin, Angeklagte ist ihre damalige Ärztin. Die junge Medizinerin hatte der Frau ein Medikament gegen Migräne verschrieben, welches unter bestimmten Umständen (wie hier mit unkontrolliert hohem Blutdruck) lebensbedrohliche Nebenwirkungen entfalten kann. Long story short: Die Patientin nahm eine Pille ein, welche ihren schon extrem gefährlich hohen Blutdruck noch weiter erhöhte. Sie verstarb nur 2 Stunden nach der Einnahme des Medikaments.

Man stelle sich vor: Plötzlich ist man mitten drin – und Teil des Lebens aller involvierter. Keine leichte Sache – denn am Ende ist es die Jury die über Schuld oder Unschuld, und auch über das Strafmass entscheidet. Ach ja: Es ist uns untersagt, während der Dauer des Prozesses darüber zu sprechen, im Internet selber zu recherchieren etc. Relevant ist nur, was im Gerichtssaal gesagt wird.

Tage 3 – 5

Es ist wie im (amerikanischen) Film: Anklage und Verteidiger befragen Zeugen (Kardiologen, Familienangehörige, Familienärzte, die Angeklagte selber) im Kreuzverhör, über Stunden und Tage. Was hier passiert ist, ist dramatisch, hat das Leben einer Familie nachhaltig verändert, und ist schlicht und einfach ungerecht. Meiner Meinung nach hat es die Ärztin verbockt. Aber ob das reicht? Der Anwalt des Klägers ist übrigens einer der besten seines Fachs und hat schon Millionen USD an Entschädigungsgeldern zugesprochen bekommen: http://www.lubinandmeyer.com/attorneys/higgins.html

Tage 6 und 7

Nach intensiven Tagen sind schliesslich auch die Schlussplädoyers vorüber – und es liegt an uns, der Jury, eine Entscheidung zu fällen. Wir sind überfordert: Da sind wir also, 14 Personen, im Hinterzimmer des Gerichtssaals, mit einer Box mit allem Beweismaterial und etwa 14 Seiten mit „Instruktionen“ wie wir das Gesetz auszulegen haben. Das war’s, mehr gibt es nicht und es ist an uns, die Diskussion irgendwie zu starten und dann – irgendwann – zu beenden. Ein Zeitlimit gibt es keines und wir könnten quasi das Gericht dazu zwingen, uns während Tagen und Wochen „deliberieren“ zu lassen. Ein Highlight: Der Gerichtsdiener brachte uns jeweils das Mittagessen, Sandwiches, Chips, Cola und die obligatorische Essiggurke. Welcome to the USA 🙂

In einem Zivilprozess muss der Kläger „mit ziemlicher Sicherheit“ darlegen können, dass die Angeklagte fahrlässig gehandelt hatte. Und so unglaublich es klingt: Am Ende entschieden wir „im Zweifel für die Angeklagte“. Es wurde nicht schlüssig dargelegt („bewiesen“), dass die Handlung der Ärztin zum Tod der Patientin geführt hatte. Natürlich hat sie das – aber die Beweislage war eben doch nicht so eindeutig.

Und so war sie also unschuldig – nach einem Prozess der inkl. der Vorbereitung 5 Jahre (!!) dauerte. Als die Richterin das Urteil verkündete, hat die Ärztin geweint. Die Augen des Ehemanns der verstorbenen Patientin konnte ich zum Glück nicht sehen.

Diese Woche war extrem intensiv, super emotional und eine der besten Erfahrungen meines Lebens. Wer hätte das gedacht.

 

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